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Auf dem Wasser war es kalt, und Kay zog die Pelzjacke, die sie trug, enger um sich.

Das Motorboot bog unterhalb des «Möwennestes» in die kleine Bucht ein, die das Haus von der dräuenden Felsmasse des Stark Head trennte.

Ein paar Mal wurde eine Frage gestellt, doch jedes Mal gab Inspektor Battle mit einer Handbewegung zu verstehen, dass die Zeit noch nicht gekommen sei. So blieb die Stille abgesehen vom Tuckern des Motors und vom Rauschen des Wassers ungebrochen. Kay und Ted standen nebeneinander und schauten auf die Wellen hinunter. Nevile ruhte mit ausgestreckten Beinen in einem Liegestuhl. Mary und Thomas saßen am Bug. Ab und zu warfen alle einen neugierigen Blick auf die große Gestalt MacWhirters, der am Heck stand.

Als das Boot den dunklen Schatten von Stark Head erreicht hatte, stellte Battle den Motor ab und begann in ernstem, nachdenklichem Ton zu reden.

«Dieser Fall gehört zu den eigenartigsten, die ich jemals erlebt habe. Wenn Sie eine Kriminalgeschichte lesen, so haben Sie es fast immer am Anfang mit einem Mord zu tun. Das ist verkehrt. Der Mord beginnt viel früher. Ein Mord ist der Höhepunkt von vielen verschiedenen Einzelsträngen, die in einem bestimmten Augenblick an einem Punkt zusammentreffen, und Menschen, die vorher nichts oder wenig miteinander zu tun hatten, finden sich plötzlich darin verwickelt. Royde kommt aus Indonesien. Mr MacWhirter ist hier, weil er einen Ort besuchen wollte, an dem er einst einen Selbstmordversuch unternommen hat. Der Mord selber ist das Ende einer Geschichte. Er ist der Schlusspunkt.»

Battle machte eine Pause.

Dann sagte er: «Jetzt sind wir beim Schlusspunkt angelangt.»

Fünf Gesichter waren ihm zugewandt – fünf nur, denn MacWhirter, der allen den Rücken zukehrte, rührte sich nicht. Fünf verwirrte Gesichter.

Mary fragte: «Sie meinen, dass Lady Tressilians Tod der Höhepunkt einer langen Kette von Ereignissen war?»

«Nein, Miss Aldin, nicht Lady Tressilians Tod. Lady Tressilians Tod diente dem Mörder nur als Mittel zum Zweck. Der Mord, von dem ich spreche, ist der Mord an Audrey Strange.»

Er lauschte auf ein scharfes Einziehen des Atems. Er fragte sich, ob es jemand mit der Angst zu tun bekam…

«Dieses Verbrechen wurde vor langer Zeit geplant, und zwar bis in die kleinste Einzelheit. Es diente nur dem einen Ziel, Audrey Strange an den Galgen zu bringen…

Es wurde von einem Menschen geplant, der sich für sehr gescheit und geschickt hielt. In der Regel sind Mörder eitel. Zuerst gab es all das unbefriedigende Beweismaterial gegen Nevile Strange, das wir durchschauen sollten. Aber da es sich um lauter falsche Indizien handelte, war der Gedanke nicht von der Hand zu weisen, dass auch die neuerlichen Indizien gefälscht waren. Tatsächlich könnten die Indizien, die gegen Audrey Strange vorlagen, ebenfalls gefälscht sein. Das Mordinstrument, das von ihrem Kamin stammte, ihre Handschuhe – der linke blutbefleckt –, die in dem Efeu vor ihrem Fenster versteckt waren; der Puder, den sie zu benutzen pflegt, ihre Haare auf dem blauen Rock; ihr Fingerabdruck, der ganz leicht auf einem Stück Heftpflaster vorhanden sein könnte, das man aus ihrem Zimmer entwendete. Sogar der linkshändige Schlag. Ja, aber dann haben wir da Audrey Stranges Verhalten, als sie verhaftet wurde. Wer könnte danach noch an ihrer Schuld zweifeln? Ich selber hätte wahrscheinlich kaum daran gezweifelt, wenn ich nicht vor einiger Zeit etwas ganz Ähnliches in meinem Privatleben erfahren hätte… Wie ein Schlag zwischen die Augen war es für mich, als ich sie sah und hörte, weil ich… ja, Sie müssen wissen, dass ich ein Mädchen kenne, das sich ganz genauso verhielt, das eine Schuld zugab, obwohl es ganz und gar unschuldig war… und Audrey Strange sah mich mit dem Blick dieses Mädchens an…

Ich musste meine Pflicht tun. Das wusste ich. Wir Polizeibeamte haben uns nach dem Augenschein zu richten, nicht nach unseren Gefühlen und Überlegungen. Aber ich kann Ihnen sagen, dass ich in jeder Minute um ein Wunder betete, weil ich erkannte, dass nur ein Wunder der armen Frau helfen konnte.

Und das Wunder kam! Kam im richtigen Augenblick! Mr MacWhirter erschien und machte seine Aussage.»

Battle änderte den Ton: «Mr MacWhirter, wollen Sie so freundlich sein und wiederholen, was Sie mir berichtet haben?»

MacWhirter drehte sich um. Er sprach in kurzen Sätzen, die in ihrer Schärfe durchaus überzeugend wirkten. Er begann mit seinem Selbstmordversuch, seiner Rettung und seiner Rückkehr zum Schauplatz des Geschehens.

Dann fuhr er fort: «Montagabend begab ich mich dorthin. Ich stand in Gedanken versunken auf der Klippe. Es mag ungefähr gegen elf Uhr gewesen sein. Ich blickte zu dem Haus hinüber – ‹Möwennest› heißt es, wie ich inzwischen erfahren habe. Aus einem Fenster dieses Hauses hing ein Seil ins Wasser hinunter. Ich sah einen Mann an dem Seil hinaufklettern…»

Nur eine Sekunde verstrich, bis die Anwesenden die Bedeutung der Worte erfasst hatten.

Mary rief: «Dann war es also doch ein Außenstehender! Ein gewöhnlicher Einbrecher! Mit uns hat die Sache nichts zu tun!»

«Langsam, langsam», beschwichtigte Battle. «Es war jemand, der vom andern Flussufer kam, ja, da der Betreffende den Fluss schwimmend durchquerte. Aber jemand im Haus musste das Seil für ihn vorbereitet haben, deshalb ist trotzdem ein Mitbewohner in Betracht zu ziehen.» Langsam fuhr er fort: «Und wir wissen von einem Menschen, der sich an jenem Abend auf dem andern Flussufer befand – jemand, der zwischen halb elf und Viertel nach elf von niemandem gesehen worden ist, und der in dieser Zeit hin- und zurückgeschwommen sein könnte. Jemand, der auf diesem Ufer vielleicht einen Freund hat. – Nun, Mr Latimer?»

Ted trat einen Schritt vor und schrie mit schriller Stimme: «Aber ich kann ja gar nicht schwimmen! Jeder weiß, dass ich nicht schwimmen kann. Kay, sag du ihnen, dass ich nicht schwimmen kann!»

«Es stimmt, Ted kann nicht schwimmen!», bestätigte Kay.

«Aha», bemerkte Battle vergnügt. Er bewegte sich auf Ted zu, der immer weiter zurückwich. Plötzlich entstand so etwas wie ein Gewühl, und dann ertönte ein Klatschen.

«Meine Güte», rief Inspektor Battle bestürzt, «Mr Latimer ist über Bord gegangen!»

Seine Hand schloss sich um Neviles Arm, als Nevile Anstalten machte, hinterherzuspringen.

«Nein, nein, Mr Strange. Nicht nötig, dass Sie sich nass machen. Dort stehen zwei kräftige Männer bereit – sehen Sie die beiden, die da im Ruderboot angeln?»

Er spähte ins Wasser.

«Es stimmt», sagte er dann. «Er kann nicht schwimmen. In Ordnung. Sie haben ihn. Ich werde mich sofort entschuldigen, aber es gibt wirklich nur eine Möglichkeit, sich davon zu überzeugen, dass jemand nicht schwimmen kann – ihn ins Wasser zu werfen und sein Verhalten beobachten. Sie müssen wissen, Mr Strange, ich gehe gern gründlich vor. Ich musste erst Mr Latimer ausschalten. Mr Royde kommt wegen seines verkrüppelten Arms nicht infrage – er kann an keinem Seil hinaufklettern.»

Battles Stimme nahm einen schmeichlerischen Ton an.

«Das führt uns also zu Ihnen, Mr Strange, nicht wahr? Ein guter Sportsmann sind Sie. Sie setzen um halb elf mit der Fähre über, aber niemand hat Sie vor Viertel nach elf im Hotel Easterhead gesehen, obwohl Sie behauptet haben, Sie hätten dort Mr Latimer gesucht.»

Nevile machte mit einem Ruck seinen Arm frei. Er warf den Kopf zurück und lachte.

«Ich soll wohl über den Fluss geschwommen und an einem Seil hinaufgeklettert sein…»

«Das Sie vorher zu Ihrem Fenster hinausgehängt hatten», ergänzte Battle.

«Dann tötete ich Lady Tressilian und schwamm zurück? Was für ein fantastischer Gedanke! Warum hätte ich das tun sollen? Und wer trug all das Beweismaterial gegen mich zusammen? Ich selbst, was?»

«Ganz recht.»

«Und aus welchen Gründen sollte ich meine Tante umgebracht haben?»

«Um die Frau an den Galgen zu bringen, die Sie um eines anderen Mannes willen verlassen hat. Sie sind moralisch nicht ganz einwandfrei, junger Mann, und zwar seit Ihrer Kindheit – ich habe mich nämlich ein wenig mit dem Fall beschäftigt, von dem Mr Treves erzählt hat. Wer Sie kränkt, der muss bestraft werden – und der Tod scheint Ihnen die einzig geziemende Strafe zu sein. Aber ein einfacher Tod genügt für Audrey nicht, für Ihre Audrey, die Sie lieben… o ja, Sie liebten sie heiß, bevor Ihre Liebe sich in Hass verwandelte. Einen ganz besonders grausamen Tod dachten Sie sich für sie aus, und die Tatsache, dass dabei eine Frau daran glauben musste, die wie eine Mutter zu Ihnen war, störte Sie nicht im geringsten…»

Nevile unterbrach den Inspektor, und seine Stimme klang ganz sanft: «Alles Lüge! Alles Lüge! Ich bin doch nicht verrückt.»

Voller Verachtung fuhr Battle fort: «Ihre Eitelkeit war verletzt, und vor der Welt taten Sie so, als hätten Sie Ihre Frau um einer andren willen verlassen, und dann heirateten Sie das Mädchen, das in Sie verliebt war, um auf diese Weise prahlen zu können. Aber im geheimen schmiedeten Sie einen Plan, wie Sie Audrey zu Grunde richten könnten. Nichts Schlimmeres fiel Ihnen ein, als sie an den Galgen zu bringen – ein guter Einfall, ein Glück, dass Sie ihn nicht besser ausgeführt haben! Kindisch, wirklich kindisch!»

Neviles breite Schultern zuckten. Ein sonderbarer Schrei entrang sich seinem Mund.

«Es war auch ein guter Einfall! Nie, nie wären Sie mir auf die Spur gekommen, wenn sich dieser Dummkopf nicht eingemischt hätte! Jede Einzelheit hatte ich mir sorgfältig überlegt. Aber wie hätte ich auch wissen sollen, dass Royde die Wahrheit über Audrey und Adrian kannte? Audrey und Adrian… Fluch über Audrey! Sie soll hängen! Sie müssen sie an den Galgen bringen! Ich will, dass sie einen schlimmen Tod erleidet… Ich hasse sie! Ich sage Ihnen, ich will, dass sie stirbt…»

Die hohe, wimmernde Stimme erstarb. Nevile sackte zusammen und begann leise zu weinen.

«O Gott», stöhnte Mary, kalkweiß im Gesicht.

Leise, in liebenswürdigem Ton sagte Battle: «Es tut mir leid, dass ich bis zum Äußersten gehen musste, ich hatte kein stichhaltiges Beweismaterial, verstehen Sie.»

Nevile wimmerte noch immer. Seine Stimme war wie die eines Kindes.

«Ich will, dass sie gehängt wird. Ich will, dass sie gehängt wird…»

Mary schauderte und wandte sich Thomas zu, der ihre Hände in die seinen nahm.